Medizinnobelpreis 1999: Günter Blobel

Medizinnobelpreis 1999: Günter Blobel
Medizinnobelpreis 1999: Günter Blobel
 
Der deutsche Zellbiologe erhielt den Nobelpreis für seine Arbeiten über den intrazellulären Transport von Proteinen.
 
 
Günter Blobel, * Waltersdorf 21. 5. 1936; 1960 Promotion an der Universität Tübingen, 1967 Dr. rer. nat. an der University of Wisconsin, 1968 Forschungsaufenthalt im Labor von Dr. G. Palade an der Rockefeller University in New York, ab 1976 dort Professor, 1983 Mitglied der National Academy of Sciences; 1993 Albert Lasker Preis für medizinische Grundlagenforschung.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Der menschliche Körper besteht aus ungefähr 100 000 Milliarden Zellen. Jede Zelle besteht aus vielen Kompartimenten (Organellen), die durch Membranen getrennt sind. Diese Organellen übernehmen spezielle Aufgaben für das Überleben der Zelle; der Zellkern beispielsweise enthält alle Informationen (DNA) für die Konstruktion von Proteinen und dirigiert so alle Funktionen der Zelle; die Mitochondrien versorgen die Zelle mit Energie, die Ribosomen und das endoplasmatische Retikulum (ER) sind für die Herstellung und den Export von neuen Proteinen zuständig. Eine Zelle enthält ungefähr eine Milliarde Proteine, die spezifische Aufgaben in den verschiedenen Organellen übernehmen. Aufgrund der erläuterten Organisation der Zelle ergeben sich zwei grundlegende Fragen: Wie gelangen die Proteine an ihren Bestimmungsort in der Zelle und wie können die relativ großen Proteine die Membranen der Organelle durchqueren? Auf beide Fragen sollten die Arbeiten von Günter Blobel eine Antwort geben.
 
 Eine kühne Hypothese
 
Im Jahr 1971 stellte Günter Blobel zusammen mit David Sabatini erstmals die »Signalhypothese« in einer theoretischen Veröffentlichung vor. Allein auf der Vorstellungskraft der Forscher beruhend, versucht diese Theorie den grundsätzlichen Vorgang der Sortierung von Proteinen in einer Zelle zu erklären. Der Theorie zufolge dient eine kurze Sequenz in den Proteinen als Signal, das sie zu einem spezifischen Bestimmungsort in der Zelle lenkt, ähnlich einer Postleitzahl auf einem Brief. Diese Publikation war gewagt — weil die Hypothese ohne experimentelle Grundlage war und weil sie dem damaligen Dogma widersprach. Wie zu erwarten, wurde die »Signalhypothese« vom Establishment der Forschungsgemeinde verworfen. Die nächsten vier Jahre verbrachte Blobel damit, experimentelle Beweise für seine Hypothese zu erbringen. Hierfür wollte er das komplexe Geschehen des Transports eines Proteins in einer Zelle vereinfacht im Reagenzglas (in vitro) nachahmen, was noch niemandem gelungen war. Die nächsten Jahre sollten zu den Schlüsseljahren in Blobels Karriere werden. Ohne ein experimentelles System konnte Blobel seine Hypothese weder bestätigen noch verwerfen, und zunehmend hatte er mit sinkenden Forschungsmitteln zu kämpfen. Nach den ersten Jahren fruchtloser Arbeit drängte deshalb die Zeit, aber in dieser kritischen Phase sollte ihm der Zufall zu Hilfe kommen. Blobel hatte ohne Erfolg mit Zellextrakten von »herkömmlichen« Labortieren wie Maus, Ratte und Meerschweinchen experimentiert. Schließlich bot ihm ein neuer Kollege am Rockefeller Institut Hundezellen für seine Versuche an. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1974 kam der Durchbruch: Mithilfe der Zellextrakte aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes gelang es Blobel erstmals, den gesamten Prozess der Proteinsynthese und des Membrantransports im Reagenzglas nachzuvollziehen. Er konnte mit diesen Experimenten die Signalhypothese bestätigen. Trotz der Veröffentlichung der Daten im Jahr 1975 war die Signalhypothese noch bis Anfang der 1980er-Jahre heftig umstritten. Mit der ihm eigenen Charakterstärke nutzte Blobel diese Zeit der Ablehnung, um sich der Aufklärung der nächsten Frage zu widmen: Wie durchquert ein Protein eine Membran, um ins Innere einer Organelle zu gelangen? Blobel schlug die Existenz eines Proteinkanals vor und stieß mit dieser Idee wieder auf großen Widerstand. Letztlich gelang es ihm, Kanäle nachzuweisen, deren Transportkapazität um ein Vielfaches größer war als die aller bisher beschriebenen Membrankanäle. Der Durchbruch war gelungen, und die Signaltheorie und die Existenz von Membrankanälen für den Proteintransport fanden endlich allgemeine Akzeptanz.
 
 Beginn einer Ära
 
Die Auswirkungen von Blobels Arbeiten waren so tief greifend, dass sie seinen Wissenschaftsbereich, die Zellbiologie, vollständig veränderten. In der Anfangsphase war die Zellbiologie, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht als solche bezeichnet wurde, eine rein deskriptive Wissenschaft, geprägt durch Entdeckungen wie die des ersten intrazellulären Kompartiments (Golgi-Apparatus) durch Camillo Golgi (Nobelpreis 1906) im Jahr 1898 oder der Fähigkeit von Zellen, extrazelluläre Partikel aufzunehmen (Phagozytose) durch Ilja Metschnikow (Nobelpreis 1908) im Jahr 1887. Die moderne Ära der Zellbiologie wurde durch technische Fortschritte in der Mikroskopie und der Zellfraktionierung eingeleitet. Diese ermöglichten die Forschungen von George Palade und Kollegen (Nobelpreis 1974), die zeigten, dass in der Zelle verschiedene Kompartimente existieren, die spezifische Aufgaben für den Transport von Proteinen erfüllen. Diese Arbeiten legten die Grundlage für die Entwicklung der Zellbiologie von einer deskriptiven zu einer empirischen Wissenschaft. Blobels Arbeiten führten die Zellbiologie noch einen Schritt weiter, denn er zeigte zum ersten Mal die molekularen Mechanismen einer Zellfunktion auf: die Sortierung von Proteinen. Das war der Beginn der Ära der molekularen Zellbiologie.
 
Die Auswirkungen von Blobels Arbeiten waren in zweierlei Hinsicht weit reichend: auf konzeptueller und auf technischer Ebene. In den Jahren nach den ersten Arbeiten am Transport von Proteinen ins ER konnten Blobel und seine Kollegen die Signalhypothese auf eine Vielzahl von Proteinen ausdehnen, die in unterschiedliche Kompartimente der Zelle transportiert werden. Außerdem konnten ähnliche molekulare Signalsequenzen auch in Proteinen von Bakterien, Hefen und Pflanzenzellen nachgewiesen und so der Nachweis erbracht werden, dass die Signalhypothese universelle Gültigkeit besitzt. Nicht zu unterschätzen waren auch die Auswirkungen des technologischen Durchbruchs, der Blobel mit der Rekonstitution der Proteinsynthese gekoppelt mit der Translokation durch eine Membran in vitro gelang. Schon zuvor wurde die Proteinsynthese im Reagenzglas nachgeahmt, niemand hatte jedoch vorher auch Membranen von Organelle hinzugegeben. Was Blobel für die Analyse des Transports von Proteinen ins ER gelang, sollte zu einer Standardmethode in der Zellbiologie für die Analyse eines Transportschritts zwischen zwei Kompartimenten werden. Später wurde diese neue Methode auch in der pharmazeutischen Industrie angewandt und trug dazu bei, dass Zellen als Proteinfabriken zur Produktion von Arzneien wie Insulin, von Wachstumshormonen oder Interferonen verwendet werden können.
 
Blobels Arbeiten halfen auch bei der Aufklärung des molekularen Mechanismus einiger Erbkrankheiten. Spezifische Erbkrankheiten können ausgelöst werden, wenn defekte Signalsequenzen in einem Protein dazu führen, dass dieses zu einem falschen Platz in der Zelle transportiert wird und somit seine Funktion nicht erfüllen kann. Die Folgen sind Krankheiten wie die Mukoviszidose (zystische Fibrose). Es ist vorstellbar, dass infolge der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Erbguts die Ursache einer Vielzahl anderer Erbkrankheiten auf Defekte in der Sortierung von Proteinen zurückzuführen sein wird.
 
V. Briken

Universal-Lexikon. 2012.

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